Der nachfolgende Text ist entnommen dem 6. Kapitel unseres Buches "Supermacht Frau / Sind die Männer noch zu retten", in dem meine Mit-Autorin Ingrid Schumacher und ich versuchen, an die Stelle eines Geschlechterkampfes wieder Wege in eine Geschlechterkultur aufzuzeigen.
"Es dauerte Wochen, bis ich - nach meiner
Genesung - beginnen konnte, mich mit ihnen zu verständigen. Zeichnungen, mit
einem Stöckchen in den Staub der Hütte gemalt, erwiesen sich dabei als
hilfreich. Wir lachten, wenn es mir gelungen war, Wörter richtig auszusprechen,
Wörter für "Frau", für "Mann", für "Boot", für
Früchte, die sie mir zum essen brachten, für Fleisch, das sie mir brieten, und
die Kokosmilch, an der ich meinen Durst stillen konnte.
Was mir auffiel war, dass stets, wenn ich
in meinen Kritzelbildern einen Mann oder eine Frau zeichnete, Atala schnell -
als gälte es, ein Unheil abzuwenden oder einem Gott zu huldigen - eine Acht
daneben malte. Diese Acht, sie spielt auf dieser Insel - oder war es ein
unbekannter Kontinent? - eine bedeutsame Rolle. Die Woche hat zum Beispiel
nicht sieben, sondern acht Tage. An jeder Hütte und an vielen Bäumen war die
Acht eingeritzt, oft auch in liegender Form, so wie unser Zeichen für das
Unendliche. Prachtvoll wurden diese Schlingen mit Farben, mit Blüten oder goldenen
Nägeln dekoriert.
So lange ich noch in der Hütte lag,
fragte ich die Frauen oft nach den Männern. Ich hörte ja draußen deren Stimmen.
Jungen und Mädchen kreischten unweit der Hütte beim Spiel. Statt einer Antwort
wiegte Atala den Kopf, nahm meine Hände, legte sie auf ihren Leib, auf ihre
Brüste und das Ypsilon ihres Schoßes. Oder sie küsste mich mit dem warmen Hauch
ihres Atems. "Mann-Frau" schien sie dabei zu sagen, oder auch einmal
"Frau-Mann", wenn sie mich berührte, meine Männlichkeit umschloss oder
Öl darüber goss und es dann mit großer Sorgfalt und Andacht von dort aus über
den ganzen Körper verteilte.
Des Rätsels Lösung erfuhr ich erst viel
später, als es mir gelang, mit ihren Stammeseltern Freundschaft zu schließen.
Auch das ist typisch, dass sie keinen Häuptling oder eine Königin wählen. Stets
liegt die Führung ihres Staates in den Händen eines Mannes und einer Frau. Sie
regieren als Paar und gelten als Hort der Liebe und Weisheit. Und das war es,
was sie mir als höchste Botschaft ihres Glaubens offenbarten:
Als Gott diese Erde schuf, da waren Mann
und Frau ein Einziges - symbolisiert durch einen Kreis, die Ganzheit, nach dem
Sinn des Schöpfers.
Am siebten Tage war das Werk vollbracht.
An jenem Tage ruhte Gott, ganz wie wir's lernen in der Christenheit. Und eben
jene Ruhe nutzte Satan, um mit einem scharfen Blitzstrahl jede Harmonie zu
spalten. So trennte er als erstes die Ganzheit Mann+Frau. Die Schwefelgase, die
mit dem "spaltenden Feuer" - so ihr Wort für Blitz - vom Himmel herabfuhren,
überzogen die Erde mit ätzender Feindschaft, so zwischen Tieren, die bis zum
siebten Schöpfungstag friedlich miteinander grasten. Feuer entzündete sich und
brachte Unheil über die ganze Kreatur. Berge explodierten, der Himmel stürzte
ein. Von diesem ohrenbetäubenden Krachen - das sich nach ihrem Glauben in jedem
Gewitter wiederholt - wachte endlich der Herrgott auf. Erschrocken über die
Verwüstungen fügte er an einem achten Schöpfungstag, so gut es ging, die
gespaltenen Teile wieder zusammen. Mit dem Lasso der Acht gelang es ihm, die
zwei nun von einander getrennten Kreise des Weiblichen und Männlichen
wenigstens wieder miteinander zu verknüpfen. Die Menschen aber erhielten den
Auftrag, die Schöpfung zu heilen und zu vollenden, indem sie die vom Satan
zersprengten Teile wieder in Harmonie zusammenfügen. So gilt der Liebesakt von
Frau und Mann als Gottesdienst. Und alles, was durch den Frevel des Satans in
Feindschaft entbrannte, soll nun im Zeichen der Acht versöhnt werden.
Seither glauben jene Menschen von Octo,
dass Leib und Seele von Mann und Frau getrennt wurden: Der Mann lebe mit Teilen
der Seele und des Leibes der Frau, die Frau mit Teilen der Seele und des
Körpers des Mannes. Im Streben und auf der Suche nach der ursprünglichen
Harmonie sehen daher die Männer von Octo in den Frauen und Mädchen einen Teil
ihrerselbst, und sie gehen hin, um Seele
und Körper Freude zu bereiten, durch Gesang, durch Zärtlichkeiten und alle
schönen Spezereien, durch Streicheln, durch Liebe und die innige Vereinigung
der Körper. Und jede Frau verehrt im Manne auch ihre Seele und ihren Leib. Und
sie pflegt diese Seele, indem sie dem Manne Freude bereitet. Freude und Liebe
gelten als Nahrung aller Seelen. "Liebe", sagte Atala, "ist
meine Sehnsucht nach Deiner Fröhlichkeit - und damit nach meiner!"