Mittwoch, 4. September 2013

Ist das die Zukunft?





Der WORTWERFER war zur falschen Zeit im Urlaub. Denn in diesen Tagen ist etwas Schreckliches passiert: Die Wohnung meiner so plötzlich verstorbenen Mit-Autorin Ingrid Schumacher musste auf einmal schnellstens geräumt werden. Ingrid hatte beim Umzug ins Wohnstift die wertvollsten Bücher aus ihrer umfangreichen Bibliothek mitgenommen. Welt-Autoren von Rang und Namen, Klassiker, Romantiker, Moderne in kostbaren Editionen musste sie um sich haben – und hatte sie ja auch verinnerlicht. Ja, wenn man täglich seine Augen an den Buchrücken vorbei gleiten lässt, diesen und jenen Band kurz in die Hand nimmt, aufblättern lässt und sich fest liest, dann lebt man mit der Literatur. Sie ist Lebenselixier. Und wie stirbt man heute damit?

Bücher in den Müll?
Die Leute, die die Wohnung ausgeräumt haben, hatten offenbar keinen blassen Schimmer. Die Bücher kamen vermutlich in den Sperrmüll. Selbst die von ihr selbst verfassten Bücher, die ich erbeten hatte, sind verschwunden. Irgendjemand verkauft schon seit einiger Zeit ihre Bücher in Amazon, der keinerlei Verbreitung- oder Nutzungsrechte hat und nie einen Pfennig oder Cent an Ingrid Schumacher gezahlt hat. Ist das die Zukunft?
Als wir aus dem Urlaub zurück kamen, machte die WOCHENEND-Beilage der Süddeutschen Zeitung mit einer Seite über den neuen Minimalismus auf: Heute hat man fast gar nichts mehr. Nur noch soviel, dass man von einem Tag zum anderen von einem Platz zum anderen, von einem Land zum anderen, von einem Job zum anderen umziehen kann. Übertrieben formuliert: eine Zahnbüste, ein Handy und einen Laptop. Vielleicht im Rucksack noch einen Kindle, in dem man 1000 Bücher speichern kann. Allenfalls zerreißt man Bücher, um sie zu scannen. Die Zukunft?
Ich stelle mir Ingrids Bücherregal vor: Die Weltliteratur von A bis Z, kostbare Eichendorff-Ausgaben, Heine, Goethe, Carossa, Benn, hundert Jahre alte Bände mit Goldprägung, Erstausgaben, ach, jede Aufzählung scheitert und schmerzt. Ist es die Zukunft, dass man alle diese Werke im Kindle hat? Tolstoi? Shakespeare? Beaumarchais? Huxley? Auf Knopfdruck? Und sonst nichts?
Wäre ich nicht im Urlaub gewesen, ich stünde jetzt vor zehn Bücherkartons, in einem Haus mit geschätzten 3000 Büchern. Natürlich gelangt man zu schwindelerregenden Beträgen, würde man die Fläche der Bücherschränke und Regale umrechnen auf eine kalkulatorische Miete mal vermutliche Lebenszeit.
Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einem russischen Altersforscher, der die These vertrat, der Mensch altere viel stärker als physisch dadurch, dass ihm seine Umgebung, die Kultur, die Lebensart und Sitten zunehmend fremd werden und er so nicht mehr leben möchte. Als ich erfuhr, dass Ingrids Bücher weg sind und niemand weiß, was aus ihnen geworden ist, da war sie noch einmal gestorben – und ich ein bisschen mit.

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