Der WORTWERFER war zur falschen Zeit im Urlaub. Denn in
diesen Tagen ist etwas Schreckliches
passiert: Die Wohnung meiner so plötzlich verstorbenen Mit-Autorin Ingrid
Schumacher musste auf einmal schnellstens geräumt werden. Ingrid hatte beim
Umzug ins Wohnstift die wertvollsten
Bücher aus ihrer umfangreichen Bibliothek mitgenommen. Welt-Autoren von
Rang und Namen, Klassiker, Romantiker, Moderne in kostbaren Editionen musste
sie um sich haben – und hatte sie ja auch verinnerlicht. Ja, wenn man täglich
seine Augen an den Buchrücken vorbei gleiten lässt, diesen und jenen Band kurz
in die Hand nimmt, aufblättern lässt und sich fest liest, dann lebt man mit der
Literatur. Sie ist Lebenselixier. Und wie stirbt man heute damit?
Bücher in den Müll?
Die Leute, die die Wohnung ausgeräumt haben, hatten offenbar
keinen blassen Schimmer. Die Bücher
kamen vermutlich in den Sperrmüll. Selbst die von ihr selbst verfassten
Bücher, die ich erbeten hatte, sind verschwunden. Irgendjemand verkauft schon seit
einiger Zeit ihre Bücher in Amazon, der keinerlei Verbreitung- oder
Nutzungsrechte hat und nie einen Pfennig oder Cent an Ingrid Schumacher gezahlt
hat. Ist das die Zukunft?
Als wir aus dem Urlaub zurück kamen, machte die
WOCHENEND-Beilage der Süddeutschen Zeitung mit einer Seite über den neuen Minimalismus auf: Heute hat man fast gar nichts mehr. Nur
noch soviel, dass man von einem Tag zum anderen von einem Platz zum anderen,
von einem Land zum anderen, von einem Job zum anderen umziehen kann. Übertrieben
formuliert: eine Zahnbüste, ein Handy und einen Laptop. Vielleicht im Rucksack noch
einen Kindle, in dem man 1000 Bücher speichern kann. Allenfalls zerreißt man Bücher, um sie zu scannen. Die Zukunft?
Ich stelle mir Ingrids Bücherregal vor: Die Weltliteratur
von A bis Z, kostbare Eichendorff-Ausgaben, Heine, Goethe, Carossa, Benn, hundert
Jahre alte Bände mit Goldprägung, Erstausgaben, ach, jede Aufzählung scheitert
und schmerzt. Ist es die Zukunft, dass man alle diese Werke im Kindle hat?
Tolstoi? Shakespeare? Beaumarchais? Huxley? Auf Knopfdruck? Und sonst nichts?
Wäre ich nicht im Urlaub gewesen, ich stünde jetzt vor zehn
Bücherkartons, in einem Haus mit geschätzten 3000 Büchern. Natürlich gelangt
man zu schwindelerregenden Beträgen, würde
man die Fläche der Bücherschränke und Regale umrechnen auf eine kalkulatorische
Miete mal vermutliche Lebenszeit.
Ich erinnere mich an eine Diskussion mit einem russischen
Altersforscher, der die These vertrat, der Mensch altere viel stärker als
physisch dadurch, dass ihm seine Umgebung, die Kultur, die Lebensart und Sitten
zunehmend fremd werden und er so nicht mehr leben möchte. Als ich erfuhr, dass
Ingrids Bücher weg sind und niemand weiß, was aus ihnen geworden ist, da war
sie noch einmal gestorben – und ich ein bisschen mit.
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