Es gibt Zufälle, bei denen sagt man sich: So kann es gehen!
Glück gehabt – oder die Welt ist klein. Diesmal berichtet der WORTWERFER über
eine Kette von Zufällen, die sich am Ende zu einem geradezu sagenhaften Zufall
zusammenfügt. Aus dem Irgendwo und Irgendwie ergeben sich völlig
unwahrscheinliche Handlungsstränge:
1. Die
wunderschöne Stadt Dubrovnik, Weltkulturerbe, wird 1991 von Serben und
Montenegrinern mit schwerer Artillerie und Schiffsgeschützen beschossen.
2. Ein
Schulfreund von mir ist in Dubrovnik bei einem Deutschlehrer und Fremdenführer
in dessen viele Jahrhunderte alten schlossähnlichen Wohnhaus zu Gast und durch
den Krieg der Serben gegen die Kroaten und das Bombardement an jeglicher
Weiterreise gehindert.
3. Ein Volltreffer
lässt das Nachbarhaus bis auf die Grundmauern abbrennen. Im Wohnhaus des
Gastgebers wird das Dach beschädigt. Um zu sehen, wie groß die Schäden sind,
klettern Gastgeber und Gast mit einer Leiter auf den Dachboden. Dort liegt ein
Haufen Schutt, nicht nur als Folge des aktuellen Beschusses, sondern offenbar
aus „Jahrhunderten“.
4. Mein
Schulfreund stochert in diesem Schutthaufen und findet eine dunkelgrüne, noch dreiviertel gefüllte Flasche mit unserem
eingeprägten Familiennamen Siegert und den Initialen J.G.B..
5. Johann Gottlieb Benjamin Ziegert
wurde 1796 in Großwalditz bei Loewenberg in Schlesien als Sohn des in zweiter
Ehe verheirateten Johann Christoph Ziegert geboren. Er hatte sechs Schwestern
und fünf Brüder, sowie aus der ersten Ehe seines Vaters wenige überlebende
Geschwister von ursprünglich fünf Söhnen und vier Töchtern.
Sein Vater
ließ die Söhne gut unterrichten. Sein 17 Jahre älterer Bruder Johann Christoph
und er studierten in Berlin Medizin und wurden auch in diesem Fach promoviert.
JGB, wie wir ihn der Kürze halber ab jetzt nennen werden, diente bei den
Magdeburger Jägern und im Königlich-Preußischen Haupt-Provincial-Hospital.
Später nahm er als Wundarzt am Feldzug gegen Napoleon teil, erlebte die
Schlacht bei Waterloo und wurde mit der Kriegsmedaille von 1815 ausgezeichnet.
Dann setzte er sein Studium fort, jetzt, nach dem Tode des Vaters, von seinem
älteren Bruder finanziert, damals bereits Sanitätsrat in Halberstadt.
Als er von
dessen Konto in Berlin 500 Dukaten abhob und 100 wohl für Spielschulden oder
ähnliches abzweigte, kam es zum Zerwürfnis zwischen den Brüdern. JGB sollte in
Halberstadt Rechenschaft ablegen, zog es aber vor, sich am 1. September 1819
nach Hamburg abzusetzen, wo er in einem Kreis hoher Offiziere verkehrte,
darunter Graf Luckner, Graf v. Wackerbart und Baron v. Eben. Durch dessen
Vermittlung lernte er den Geschäftsträger
der jungen Republik Venezuela Lopez Mendez kennen, der ihn dafür begeistern
konnte, als Venezolanischer Regiments-Chirurgus in die Dienste des Freiheitskämpfers Simon Bolivar zu treten.
6. Am 25. Februar 1820 schiffte er
sich zusammen mit Baron v. Eben und weiteren Offizieren (u.a. Heinrich v.
Lützow) auf einem Segler ein. Über einen Zwischenaufenthalt auf der Insel St.
Thomas traf er im August 1820 in Angostura,
der damaligen Hauptstadt der Provinz Guyana, ein. General Bolivar ernannte ihn
zum Chefarzt des dortigen Militär-Hospitals. Als einziger Arzt in Angostura,
dem späteren Ciudad Bolivar, wurde er bald auch Stadt-Physikus und Eigner der
Stadt-Apotheke.
7. Es fehlte an Medikamenten, um der
Seuchen Herr zu werden. So begann er, selber Mixturen zu entwickeln, von denen
eine der uns heute noch bekannte und
beliebte Angostura Bitter ist, der in keiner gepflegten Bar fehlen darf. Er
schreibt darüber:
"Diesen Bitter präpariere ich
hier seit dem Jahre 1824 als eine von mir erfundene Composition ... Die
Etiketten auf diesen Flaschen sind in spanischer und englischer Sprache
abgefasst ... bemerken möchte ich, daß dieser Bitter mit etwas Madeirawein,
Rum, Cognac, Wacholder oder Kornbranntwein getrunken werden muß ... Des Morgens
nüchtern oder vor dem Mittagessen genommen ruft dieser Bitter den
vortrefflichsten Effekt hervor: Er belebt die Eßlust als auch die
Verdauungskräfte, besonders bei hypochondrischen und hysterischen Personen auf
eine sehr auffallende Weise. Gegen Blähungen, Magenerkältungen und Diarrhöen
leistet er ebenfalls die ausgezeichnetsten Dienste ..."
8. Der „Angostura Bitter“ – nur echt
mit dem nunmehr hispanisierten Namenszug „Juan
Teofilo Benjamino Siegert“ dient nicht nur als Medizin, sondern erfreut
sich bald großer Beliebtheit als unentbehrlicher Magenbitter und Zusatz zu
Cocktails aller Art – bis heute. Begehrt war er alsbald auch an Kaiser-,
Königs- und Fürstenhöfen sowie bei den Zaren in Petersburg. Briefwechsel dazu
liegen bei uns vor.
9. Diese Zaren und ihre Familien
verbrachten ihre Sommermonate häufig in Dubrovnik, und zwar in eben jenem
„Palais“ mit wunderbaren Seeblick, in dem nun mein Schulfreund im Schutt auf
dem Dachboden eine dieser sehr alten, ersten
Original-Flaschen „Angostura Bitter“ gefunden hat. Er hat sie uns
geschenkt! Tausend Dank!
10. Wenn Dubrovnik nicht beschossen worden wäre, wenn das „Palais“ nicht Schaden genommen hätte, wenn mein Schulfreund nicht mit dem
kroatischen Fremdenführer befreundet und
bei ihm zu Gast gewesen wäre, wenn
er nicht mein Schulfreund gewesen wäre aus der ersten Abiturklasse nach 1945, wenn wir nicht vor der russischen Deportation
in den Ural ins Rheinland geflohen und
ich in die Klasse meines Freundes gekommen wäre, wenn mein UrUrUrOnkel nicht Geld unterschlagen und nach Angostura (heute Ciudad Bolivar) geflohen wäre und dort als Leibarzt, Armee-Medicus
und Stadtapotheker den „Angostura Bitter“ gemixt hätte, wenn der nicht nach Russland an den Zarenhof oder irgendwie sonst
ins Palais in Dubrovnik gelangt wäre und
sich jemand auf dem Dachboden vielleicht heimlich einen angedudelt hätte, wenn,
wenn, wenn … Solche Zufälle – gibt’s die?
„Angostura
Bitter“, nur echt mit dem Namenszug Juan Benjamino Teofilo Siegert, gibt es heute noch in jedem
qualifizierten Delikatessengeschäft. Wir haben jedoch nichts davon. Er wird
nunmehr in Trinidad hergestellt, von Siegerts, die jedoch nicht verwandt sein
sollen mit meinen Verwandten. Dort soll es sogar ein Siegert-Denkmal geben. Aber
Nachkommen gibt es in aller Welt, auch in Deutschland. Auch in Facebook! verrät
der WORTWERFER. Die Flasche ruht sicher im Safe. Nun mixt Euch mal einen Drink!
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