Dienstag, 18. Februar 2014

Zufälle – gibt’ die?




Es gibt Zufälle, bei denen sagt man sich: So kann es gehen! Glück gehabt – oder die Welt ist klein. Diesmal berichtet der WORTWERFER über eine Kette von Zufällen, die sich am Ende zu einem geradezu sagenhaften Zufall zusammenfügt. Aus dem Irgendwo und Irgendwie ergeben sich völlig unwahrscheinliche Handlungsstränge:

1. Die wunderschöne Stadt Dubrovnik, Weltkulturerbe, wird 1991 von Serben und Montenegrinern mit schwerer Artillerie und Schiffsgeschützen beschossen.
2. Ein Schulfreund von mir ist in Dubrovnik bei einem Deutschlehrer und Fremdenführer in dessen viele Jahrhunderte alten schlossähnlichen Wohnhaus zu Gast und durch den Krieg der Serben gegen die Kroaten und das Bombardement an jeglicher Weiterreise gehindert.
3. Ein Volltreffer lässt das Nachbarhaus bis auf die Grundmauern abbrennen. Im Wohnhaus des Gastgebers wird das Dach beschädigt. Um zu sehen, wie groß die Schäden sind, klettern Gastgeber und Gast mit einer Leiter auf den Dachboden. Dort liegt ein Haufen Schutt, nicht nur als Folge des aktuellen Beschusses, sondern offenbar aus „Jahrhunderten“.
4. Mein Schulfreund stochert in diesem Schutthaufen und findet eine dunkelgrüne, noch dreiviertel gefüllte Flasche mit unserem eingeprägten Familiennamen Siegert und den Initialen J.G.B..
5. Johann Gottlieb Benjamin Ziegert wurde 1796 in Großwalditz bei Loewenberg in Schlesien als Sohn des in zweiter Ehe verheirateten Johann Christoph Ziegert geboren. Er hatte sechs Schwestern und fünf Brüder, sowie aus der ersten Ehe seines Vaters wenige überlebende Geschwister von ursprünglich fünf Söhnen und vier Töchtern.
Sein Vater ließ die Söhne gut unterrichten. Sein 17 Jahre älterer Bruder Johann Christoph und er studierten in Berlin Medizin und wurden auch in diesem Fach promoviert. JGB, wie wir ihn der Kürze halber ab jetzt nennen werden, diente bei den Magdeburger Jägern und im Königlich-Preußischen Haupt-Provincial-Hospital. Später nahm er als Wundarzt am Feldzug gegen Napoleon teil, erlebte die Schlacht bei Waterloo und wurde mit der Kriegsmedaille von 1815 ausgezeichnet. Dann setzte er sein Studium fort, jetzt, nach dem Tode des Vaters, von seinem älteren Bruder finanziert, damals bereits Sanitätsrat in Halberstadt.
Als er von dessen Konto in Berlin 500 Dukaten abhob und 100 wohl für Spielschulden oder ähnliches abzweigte, kam es zum Zerwürfnis zwischen den Brüdern. JGB sollte in Halberstadt Rechenschaft ablegen, zog es aber vor, sich am 1. September 1819 nach Hamburg abzusetzen, wo er in einem Kreis hoher Offiziere verkehrte, darunter Graf Luckner, Graf v. Wackerbart und Baron v. Eben. Durch dessen Vermittlung lernte er den Geschäftsträger der jungen Republik Venezuela Lopez Mendez kennen, der ihn dafür begeistern konnte, als Venezolanischer Regiments-Chirurgus in die Dienste des Freiheitskämpfers Simon Bolivar zu treten.
6. Am 25. Februar 1820 schiffte er sich zusammen mit Baron v. Eben und weiteren Offizieren (u.a. Heinrich v. Lützow) auf einem Segler ein. Über einen Zwischenaufenthalt auf der Insel St. Thomas traf er im August 1820 in Angostura, der damaligen Hauptstadt der Provinz Guyana, ein. General Bolivar ernannte ihn zum Chefarzt des dortigen Militär-Hospitals. Als einziger Arzt in Angostura, dem späteren Ciudad Bolivar, wurde er bald auch Stadt-Physikus und Eigner der Stadt-Apotheke.
7. Es fehlte an Medikamenten, um der Seuchen Herr zu werden. So begann er, selber Mixturen zu entwickeln, von denen eine der uns heute noch bekannte und beliebte Angostura Bitter ist, der in keiner gepflegten Bar fehlen darf. Er schreibt darüber:
"Diesen Bitter präpariere ich hier seit dem Jahre 1824 als eine von mir erfundene Composition ... Die Etiketten auf diesen Flaschen sind in spanischer und englischer Sprache abgefasst ... bemerken möchte ich, daß dieser Bitter mit etwas Madeirawein, Rum, Cognac, Wacholder oder Kornbranntwein getrunken werden muß ... Des Morgens nüchtern oder vor dem Mittagessen genommen ruft dieser Bitter den vortrefflichsten Effekt hervor: Er belebt die Eßlust als auch die Verdauungskräfte, besonders bei hypochondrischen und hysterischen Personen auf eine sehr auffallende Weise. Gegen Blähungen, Magenerkältungen und Diarrhöen leistet er ebenfalls die ausgezeichnetsten Dienste ..."
8. Der „Angostura Bitter“ – nur echt mit dem nunmehr hispanisierten Namenszug „Juan Teofilo Benjamino Siegert“ dient nicht nur als Medizin, sondern erfreut sich bald großer Beliebtheit als unentbehrlicher Magenbitter und Zusatz zu Cocktails aller Art – bis heute. Begehrt war er alsbald auch an Kaiser-, Königs- und Fürstenhöfen sowie bei den Zaren in Petersburg. Briefwechsel dazu liegen bei uns vor.
9. Diese Zaren und ihre Familien verbrachten ihre Sommermonate häufig in Dubrovnik, und zwar in eben jenem „Palais“ mit wunderbaren Seeblick, in dem nun mein Schulfreund im Schutt auf dem Dachboden eine dieser sehr alten, ersten Original-Flaschen „Angostura Bitter“ gefunden hat. Er hat sie uns geschenkt! Tausend Dank!
10. Wenn Dubrovnik nicht beschossen worden wäre, wenn das „Palais“ nicht Schaden genommen hätte, wenn mein Schulfreund nicht mit dem kroatischen Fremdenführer befreundet und bei ihm zu Gast gewesen wäre, wenn er nicht mein Schulfreund gewesen wäre aus der ersten Abiturklasse nach 1945, wenn wir nicht vor der russischen Deportation in den Ural ins Rheinland geflohen und ich in die Klasse meines Freundes gekommen wäre, wenn mein UrUrUrOnkel nicht Geld unterschlagen und nach Angostura (heute Ciudad Bolivar) geflohen wäre und dort als Leibarzt, Armee-Medicus und Stadtapotheker den „Angostura Bitter“ gemixt hätte, wenn der nicht nach Russland an den Zarenhof oder irgendwie sonst ins Palais in Dubrovnik gelangt wäre und sich jemand auf dem Dachboden vielleicht heimlich einen angedudelt hätte, wenn, wenn, wenn … Solche Zufälle – gibt’s die?

„Angostura Bitter“, nur echt mit dem Namenszug Juan Benjamino Teofilo Siegert, gibt es heute noch in jedem qualifizierten Delikatessengeschäft. Wir haben jedoch nichts davon. Er wird nunmehr in Trinidad hergestellt, von Siegerts, die jedoch nicht verwandt sein sollen mit meinen Verwandten. Dort soll es sogar ein Siegert-Denkmal geben. Aber Nachkommen gibt es in aller Welt, auch in Deutschland. Auch in Facebook! verrät der WORTWERFER. Die Flasche ruht sicher im Safe. Nun mixt Euch mal einen Drink!

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