Samstag, 21. Februar 2015

Adrienne war schlecht beraten




 Eine der frühen Kurzgeschichten von mir, veröffentlicht in der "Rheinischen Post" vom 14.7.1955. Da gab's noch Gepäcknetze und man durfte im Zug rauchen. Viel Spaß

 Adrienne war schlecht beraten
Eine merkwürdige Begegnung
erzählt von Werner Siegert

„Meinen Sie?“ schreckte mein Gegenüber auf und starrte mich forschend an. Sie kennen das ja: Erst war ihm der Kopf ein paar Mal vornüber gesunken, wenig später atmete er tief und ruhig, der monotone Schienenschlag verfehlte seine Wirkung nie. Dann kam eine Weiche, und hoppla, schon kam er wieder zu sich. Und in dieser selben Sekunde beugt er sich zu mir herüber und schleudert mir sein „Meinen Sie?“ entgegen.

Bitte, was hätten Sie in dieser Lage getan? Ich bin ein höflicher Mensch. Ohne zu zögern sagte ich „Ja“, obgleich ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich wohl meinte. Taktlos wäre es, einen Traum auf der Schwelle ins Reich der Wirklichkeit mit einem rauen Wort wieder ins Jenseits zu verweisen!

Nachdenklich schüttelte der Eisenbahnträumer seinen Kopf, dann fuhr er plötzlich fort: „Wie hat es aber dazu kommen können?“ Oho, was nun? Jetzt ein Traumbuch haben! Zunächst konnte ich ja noch ausweichen: „Vermögen Sie das Schicksal zu enträtseln?“ Ein Hoch dem Gemeinplatz! Das also ist sein Wert, meditierte ich: Tote Geleise auf dem Wege zur klaren Aussage, Rangierbahnhöfe… Ich hätte es bestimmt noch schöner formulieren können, wenn man mich nicht aus der Bahn geworfen hätte: „Ja, aber dagegen ließ sich doch damals noch etwas unternehmen!“

Wogegen denn, um des Himmels Willen? Ich geriet in Panik, Schlussverkauf der Phantasie, Reste ganz billig. Der Schweiß tränkte meine Augenbrauen, da kam die Rettung: „Eine Tragik menschlichen Unvermögens? Wohl kaum!“ ließ ich aus skeptischem Munde vernehmen. Das gab mal wieder etwas Aufenthalt. Was hatte ich mir da eingebrockt, aus purer Höflichkeit! Für nichts und wieder nichts musste ich meine Gedanken-Mechanerie auf höchste Touren bringen. Wohltätigkeitsmatinee mit feilgebotenen Kurzgeschichten!

Und wieder völlige Verwirrung: „Versagen, Versagen, völliges Versagen! Das ist es ja eben!“ prustete er, und ich wich zurück, als ob seine Anklagen mir gegolten hätten. Der Ball war wieder bei mir, und einmal begonnen, musste ich auch mitspielen „Ich möchte mich nicht in dieser Richtung festlegen“, ließ ich  verlauten. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“
Dieser Schuss war gewagt, und da kam auch schon die Antwort wie ein Schmetterball: „Ja, aber Sie sagten doch eben selbst, dass alle Möglichkeiten offen waren, um aus dieser Situation zu entkommen?“ Donnerwetter, da hatte mir mein traumhaftes Double aber etwas eingebrockt. Ich musste ihm zu Hilfe kommen: „Sehen Sie, wenn ein Fuchs auch viele Löcher hat, er kann doch immer nur aus einem kriechen!“ War ich nun sicher? Ich nutzte die Pause, um meinen unheimlichen Partner im Spiegel der Scheibe zu beobachten. Er mochte etwa in meinem Alter sein. Und sah doch eigentlich ganz normal aus. Sollte er tatsächlich…, aber dann müsste man ihn doch heilen können? Meine Gedanken verloren sich wieder auf dem Bazar, auf dem man Storys verkaufte. Wieder eine Schwarte … zum ersten, zum zweiten und zum … Gerade wollte ich sie nehmen, da kam mir jemand zuvor: „Was hätten Sie denn an ihrer Stelle unternommen?“

Ach so, ja, ich? Moment, es handelte sich also um eine Frau oder Genetiv Pluralis? Ich entschied für Frau: „Nichts schwieriger, als sich in die Gedanken eines Weibes zu versetzen!“ Das stimmte. Dafür konnte ich bürgen. Jetzt machte mir das Spiel langsam Spaß. Es würde einen erstklassigen Stoff für das morgige Feuilleton bieten. Dass ich nicht früher darauf gekommen war! Jetzt ging ich dem Geheimnis sozusagen beruflich auf die Spur. Bevor er auch nur sein Geschütz auf mich richten konnte, zwang ich ihn schon wieder in volle Deckung: „Und in dieser begreiflichen Aufregung…“ Ich ließ den Satz unvollendet, wartete eine Weile und fuhr fort: „Außerdem lässt sich als Außenstehender schwer etwas dazu sagen…, höchstens, - nein, das kommt auch nicht in Betracht!“
Trotz seiner temperamentvollen Antworten konnte ich nichts Näheres erkunden. Verlegen lenkte ich meine Blicke mal ins Gepäcknetz, wo ein paar zurückgelassene Apfelsinenschalen im Rhythmus schaukelten, mal hinaus, wo die Landschaft wie ein endloser Kulturfilm vorbeizog. Die Regie war schlecht, die Beleuchtung brachte das Dreidimensionale unvollkommen, die Komparserie benahm sich kindisch. Zwischen meinem Partner und mir war eine Art Waffenstillstand ausgebrochen. Er hatte sich ein wenig die Beine vertreten. Jetzt ließ er sich in die Polster sinken, und mit einer Selbstverständlichkeit nahm er den Faden wieder auf: „Wissen Sie, das Fräulein Silvia hätte ja auch ein wenig helfend einspringen können!“ – „Nun, sie hat es wohl versucht, hat sich aber durch die anfänglichen Schwierigkeiten schrecken lassen Nachher war es freilich zu spät!“ gab ich kühn zurück.
Ich bemühte mich, auch für René und jenen Mr. Dilthey ein Plädoyer zu halten, während ich bald heraus hatte, dass McSean ein ausgesprochenes Ekel sein musste. Endlich hatte die Geschichte an Plastik gewonnen. Vom Speisewagen zurückkehrend bot ich ihm eine Zigarette an und erklärte dazu: „Ich hätte mich ja niemals auf diesen McSean verlassen; dann sähe die Sache heute anders aus!“
Der Film draußen lief offenbar rückwärts: Jetzt kam die Reklame. Spare bei der Kreditkasse Hamburg. Wasche mit Lunika. Endlich setzte auch die eintönige Begleitmusik aus. Anfang. Ich musste raus.
„Adrienne war wirklich schlecht beraten mit ihm, aber nun ist nichts mehr zu ändern, oder glauben Sie, dass noch Hoffnung ist?“ fragte er mich, als er mir in den Mantel half.
Während ich die Tasche aus dem Gepäcknetz nahm, musste auch ich ihm beipflichten, dass in einer solchen Lage wohl wenig zu machen sei. Auf dem Bahnhof nickte er mir aus dem Fenster zu, dann verlor ich ihn und seine seltsame Familie aus den Augen.

Gerade schreibe ich das in die Maschine, da packt mich ein starkes Niesen. Mit einem Sprung bin ich an der Garderobe, reiße das Tüchlein aus der Manteltasche, da fällt mir ein kleines Kuvert vor die Füße – eine Visitenkarte: „Harry McSean, Schriftsteller“ – und auf der Rückseite: „Denken Sie nicht, ich sei irre. Haben Sie vielmehr Dank für Ihre ausgezeichneten Antworten. Jetzt komme ich endlich in meinem Roman weiter.“

Mittwoch, 4. Februar 2015

Unsichtbare Wesen



Unsichtbare Wesen

Guten Tag, gestatten dass ich mich Ihnen noch einmal vorstelle: Mein Name ist Robin Gettup. Ich bin Alltagsphänomenforscher, in Google vertreten und ständig auf der Suche nach Aufklärung, oder zumindest nach Mitmenschen, die unter ähnlichen Erscheinungen leiden. Der WORTWERFER hat mich für die nächsten Wochen engagiert und ich engagiere SIE! Denn vielleicht wissen Sie mehr. Dann erreichen Sie mich in Facebook unter Werner Hubertus Siegert. Heute frage ich SIE:

„Glauben Sie auch an unsichtbare Wesen?“
Mit dem Büroklammerfresser werden wir uns demnächst extra beschäftigen. Die vielfältige Zustimmung, die ich seinerzeit bekam, hat meine letzten Zweifel beseitigt: Es gibt ihn tatsächlich! Was mich jedoch umtreibt, ist, dass sich noch mehr unsichtbare Wesen in meinem Office umtreiben. Bei Ihnen auch?
Also das geht so: Eben lag noch ein Schriftstück auf meinem Schreibtisch. Ich sehe noch den Briefkopf deutlich vor mir – und auf einmal ist es weg! Einfach weg!
Jetzt beginnt natürlich die Sucherei. Das kann ja gar nicht sein: eben noch da, jetzt weg! Andere Schriftstücke, die ich zur Zeit gar nicht gebrauchen kann, liegen da und glotzen mich an. Ich wälze den Stoß Papiere um. Der Brief kann ja nicht weg sein! Er war doch eben noch da! Ich schaue unter den Schreibtisch, krieche auf dem Boden rum, finde Büroklammern, eine Visitenkarte, ein kleines Blöckchen Post-it, einen Kugelschreiber. Aber den Brief natürlich nicht. Es gibt, da muss ich mich jetzt peinlicherweise outen, noch mehr Papierstapel in meinem Office. Es gibt Körbe für Zeitungsausschnitte, für die Buchmesse, für den Weißwurst-Knigge, für Unerledigtes, für Buchungs- und Steuerkram. Kurzum: Bei uns herrscht Ordnung! Ein Griff – und die Sucherei beginnt.
Kann der Brief in die Schublade gerutscht sein? Nein, aber die muss dringend und sofort aufgeräumt werden. Was da alles drin liegt, habe ich ganz bestimmt nicht alles reingelegt.
Ich habe inzwischen auch den Papierkorb umgekippt und Schnipsel für Schnipsel und nicht Erwähnbares erneut entsorgt.
Ich vermute, in irgendeiner Ecke sitzt jetzt grinsend so ein unsichtbarer Kobold mit dem unsichtbaren Brief in der Hand und lacht sich kaputt.
Natürlich weiß ich, welchen Tipp Sie und meine Frau mir jetzt geben: „Überleg doch mal, was du davor gemacht hast! War da eine Klarsichthülle dabei, wo der Brief hineingerutscht sein könnte? Hast du ihn mitgegriffen, als du was in die Wiedervorlage gesteckt hast?“
Mitgegriffen? Heiß und kalt wird mir. Ich werde den Brief doch nicht versehentlich in einen der Briefumschläge mit hineingestopft haben, die jetzt schon frankiert im Postkorb liegen? Also alle Kuverts noch mal öffnen, durchsehen. Die Briefmarken ablösen. Neue Umschläge beschriften. Die nassen Briefmarken mit Klebe wieder drauf. Nix.
Eine schlaflose Nacht folgt. Schließlich überzeugen mich die Klar-Träume, die es ja geben soll, davon, dass genau von diesem Schriftstück mein Überleben abhängt. Ich rufe frühmorgens die Sekretärin meines Klienten an, gestehe ihr mit hochrotem Kopf, den sie gottlob nicht sieht, meine mutmaßliche Schlamperei. „Kann ja mal vorkommen; ist doch nicht so schlimm!“ gießt sie mir Seelenbalsam über mein Haupt und schickt per Fax eine Kopie.

Und welchen Schluss ziehen Sie aus der Tatsache, dass im selben Augenblick, in dem das Fax aus dem Gerät quillt, der originale Brief breit und fett auf meinem Schreibtisch liegt? Ich würde mich gern mit Ihnen über diese Begegnungen der 3. Art austauschen.
PS: Der Brief war doch nicht so wichtig. Weiß jetzt Robin Gettup