Eine der frühen Kurzgeschichten von mir, veröffentlicht in der "Rheinischen Post" vom 14.7.1955. Da gab's noch Gepäcknetze und man durfte im Zug rauchen. Viel Spaß
Adrienne
war schlecht beraten
Eine merkwürdige Begegnung
erzählt von Werner Siegert
„Meinen Sie?“ schreckte mein Gegenüber auf und starrte mich
forschend an. Sie kennen das ja: Erst war ihm der Kopf ein paar Mal vornüber
gesunken, wenig später atmete er tief und ruhig, der monotone Schienenschlag
verfehlte seine Wirkung nie. Dann kam eine Weiche, und hoppla, schon kam er
wieder zu sich. Und in dieser selben Sekunde beugt er sich zu mir herüber und
schleudert mir sein „Meinen Sie?“
entgegen.
Bitte, was hätten Sie in dieser
Lage getan? Ich bin ein höflicher Mensch. Ohne zu zögern sagte ich „Ja“,
obgleich ich nicht die geringste Ahnung hatte, was ich wohl meinte. Taktlos
wäre es, einen Traum auf der Schwelle ins Reich der Wirklichkeit mit einem
rauen Wort wieder ins Jenseits zu verweisen!
Nachdenklich schüttelte der
Eisenbahnträumer seinen Kopf, dann fuhr er plötzlich fort: „Wie hat es aber dazu kommen können?“ Oho, was nun? Jetzt ein
Traumbuch haben! Zunächst konnte ich ja noch ausweichen: „Vermögen Sie das Schicksal zu enträtseln?“ Ein Hoch dem
Gemeinplatz! Das also ist sein Wert, meditierte ich: Tote Geleise auf dem Wege
zur klaren Aussage, Rangierbahnhöfe… Ich hätte es bestimmt noch schöner
formulieren können, wenn man mich nicht aus der Bahn geworfen hätte: „Ja, aber dagegen ließ sich doch damals noch
etwas unternehmen!“
Wogegen denn, um des Himmels
Willen? Ich geriet in Panik, Schlussverkauf der Phantasie, Reste ganz billig.
Der Schweiß tränkte meine Augenbrauen, da kam die Rettung: „Eine Tragik menschlichen Unvermögens? Wohl kaum!“ ließ ich aus
skeptischem Munde vernehmen. Das gab mal wieder etwas Aufenthalt. Was hatte ich
mir da eingebrockt, aus purer Höflichkeit! Für nichts und wieder nichts musste
ich meine Gedanken-Mechanerie auf höchste Touren bringen. Wohltätigkeitsmatinee
mit feilgebotenen Kurzgeschichten!
Und wieder völlige Verwirrung: „Versagen, Versagen, völliges Versagen! Das
ist es ja eben!“ prustete er, und ich wich zurück, als ob seine Anklagen
mir gegolten hätten. Der Ball war wieder bei mir, und einmal begonnen, musste
ich auch mitspielen „Ich möchte mich
nicht in dieser Richtung festlegen“, ließ ich verlauten. „Richtet nicht, damit ihr nicht gerichtet werdet!“
Dieser Schuss war gewagt, und da
kam auch schon die Antwort wie ein Schmetterball: „Ja, aber Sie sagten doch eben selbst, dass alle Möglichkeiten offen
waren, um aus dieser Situation zu entkommen?“ Donnerwetter, da hatte mir
mein traumhaftes Double aber etwas eingebrockt. Ich musste ihm zu Hilfe kommen:
„Sehen Sie, wenn ein Fuchs auch viele
Löcher hat, er kann doch immer nur aus einem kriechen!“ War ich nun sicher?
Ich nutzte die Pause, um meinen unheimlichen Partner im Spiegel der Scheibe zu
beobachten. Er mochte etwa in meinem Alter sein. Und sah doch eigentlich ganz
normal aus. Sollte er tatsächlich…, aber dann müsste man ihn doch heilen
können? Meine Gedanken verloren sich wieder auf dem Bazar, auf dem man Storys
verkaufte. Wieder eine Schwarte … zum ersten, zum zweiten und zum … Gerade
wollte ich sie nehmen, da kam mir jemand zuvor: „Was hätten Sie denn an ihrer Stelle unternommen?“
Ach so, ja, ich? Moment, es
handelte sich also um eine Frau oder Genetiv Pluralis? Ich entschied für Frau: „Nichts schwieriger, als sich in die
Gedanken eines Weibes zu versetzen!“ Das stimmte. Dafür konnte ich bürgen.
Jetzt machte mir das Spiel langsam Spaß. Es würde einen erstklassigen Stoff für
das morgige Feuilleton bieten. Dass ich nicht früher darauf gekommen war! Jetzt
ging ich dem Geheimnis sozusagen beruflich auf die Spur. Bevor er auch nur sein
Geschütz auf mich richten konnte, zwang ich ihn schon wieder in volle Deckung: „Und in dieser begreiflichen Aufregung…“
Ich ließ den Satz unvollendet, wartete eine Weile und fuhr fort: „Außerdem lässt sich als Außenstehender
schwer etwas dazu sagen…, höchstens, - nein, das kommt auch nicht in Betracht!“
Trotz seiner temperamentvollen
Antworten konnte ich nichts Näheres erkunden. Verlegen lenkte ich meine Blicke
mal ins Gepäcknetz, wo ein paar zurückgelassene Apfelsinenschalen im Rhythmus
schaukelten, mal hinaus, wo die Landschaft wie ein endloser Kulturfilm
vorbeizog. Die Regie war schlecht, die Beleuchtung brachte das Dreidimensionale
unvollkommen, die Komparserie benahm sich kindisch. Zwischen meinem Partner und
mir war eine Art Waffenstillstand ausgebrochen. Er hatte sich ein wenig die
Beine vertreten. Jetzt ließ er sich in die Polster sinken, und mit einer
Selbstverständlichkeit nahm er den Faden wieder auf: „Wissen Sie, das Fräulein Silvia hätte ja auch ein wenig helfend
einspringen können!“ – „Nun, sie hat es wohl versucht, hat sich aber durch die
anfänglichen Schwierigkeiten schrecken lassen Nachher war es freilich zu spät!“
gab ich kühn zurück.
Ich bemühte mich, auch für René
und jenen Mr. Dilthey ein Plädoyer zu halten, während ich bald heraus hatte,
dass McSean ein ausgesprochenes Ekel sein musste. Endlich hatte die Geschichte
an Plastik gewonnen. Vom Speisewagen zurückkehrend bot ich ihm eine Zigarette
an und erklärte dazu: „Ich hätte mich ja
niemals auf diesen McSean verlassen; dann sähe die Sache heute anders aus!“
Der Film draußen lief offenbar
rückwärts: Jetzt kam die Reklame. Spare bei der Kreditkasse Hamburg. Wasche mit
Lunika. Endlich setzte auch die eintönige Begleitmusik aus. Anfang. Ich musste
raus.
„Adrienne war wirklich schlecht beraten mit ihm, aber nun ist nichts
mehr zu ändern, oder glauben Sie, dass noch Hoffnung ist?“ fragte er mich,
als er mir in den Mantel half.
Während ich die Tasche aus dem
Gepäcknetz nahm, musste auch ich ihm beipflichten, dass in einer solchen Lage
wohl wenig zu machen sei. Auf dem Bahnhof nickte er mir aus dem Fenster zu,
dann verlor ich ihn und seine seltsame Familie aus den Augen.
Gerade schreibe ich das in die
Maschine, da packt mich ein starkes Niesen. Mit einem Sprung bin ich an der
Garderobe, reiße das Tüchlein aus der Manteltasche, da fällt mir ein kleines
Kuvert vor die Füße – eine Visitenkarte: „Harry McSean, Schriftsteller“ – und
auf der Rückseite: „Denken Sie nicht, ich
sei irre. Haben Sie vielmehr Dank für Ihre ausgezeichneten Antworten. Jetzt komme
ich endlich in meinem Roman weiter.“